Du kannst diesen Beitrag auch anhören :-)
Ich blättere gerne durch die Aufschriebe aus meiner Anti-Bias-Ausbildung. Es erstaunt mich immer wieder, dass ich dieselben Sätze lesen und dabei neue Erkenntnisse gewinnen kann. Neulich bin ich über folgende Randnotiz gestolpert: Es geht um Haltung!
Dieser Satz bedeutet mir viel. So viel, dass er überall in meiner Arbeit zu finden ist. Auf meinem Material, wenn ich meine Angebote und Ziele beschreibe und sogar als Teil meines Slogans:
WISSEN – HALTUNG – WANDEL
In meinem ersten Blogbeitrag möchte ich daher der Frage nachgehen: Was ist eigentlich Haltung?
Haltung ist einer dieser Begriffe, über die man vortrefflich philosophieren und streiten kann. Mein Studium sowie sechs Jahre Hochschultätigkeit haben mich zu folgendem Vorgehen erzogen: Zunächst mal müssen unterschiedliche wissenschaftlichen Quellen aufgetrieben werden, dann werden diese gelesen, geprüft, kategorisiert und einander feinsäuberlich gegenübergestellt. Und erst dann kann ein eigenständiges Fazit in Betracht gezogen werden. Das, was ich als nächstes mache, fühlt sich daher ganz schön unanständig an.
Ich überspringe die ganze theoretische Herleitung und spüre meinen eigenen Gedanken und Gefühlen nach. Was ist Haltung für mich? Warum ist sie mir in meiner Arbeit so wichtig? Und warum ist sie dennoch nicht DIE Lösung?
Was IST Haltung für mich?
Das erste Bild in meinem Kopf, ist das zweier engumschlungener Menschen, die sich zur Musik im Gleichklang bewegen. Hä?
Ich tanze leidenschaftlich gerne Paartanz. Forró, einen brasilianischen Paartanz und Tango Argentino. Zum Tanzen brauche ich Körperspannung bis in die Finger- und Fußspitzen:
Um mein eigenes Gewicht tragen zu können, um mich flexibel aus meiner Achse heraus zu biegen, zu drehen und wieder sicher in diese hineinzufinden, um auf die Bewegungen und Impulse meiner Tanzpartner*innen eingehen zu können. Eine gute Tanzhaltung ermöglicht erst die Verbindung zum Gegenüber.
Neben der physischen Körperhaltung gehört für mich die innere Haltung unabdingbar zum Tanzgenuss dazu. Aha, wir kommen der Sache näher.
Zu meiner inneren Haltung im Paartanz gehört beispielsweise die grundsätzliche Achtung und Wertschätzung aller Tänzer*innen und ihrer Grenzen, die Bereitschaft sich auf die anderen einzulassen, beim Führen auf die Fähigkeiten und das Level der Folgenden achten, beim Folgen durchlässig und aufmerksam sein.
Haltung, das ist für mich der innere Kompass, bestehend aus Werten und Überzeugungen mit denen ich mich zur Welt verhalte. Und genau wie mir Körperspannung erst ein Verbiegen und aus der Achse lehnen ermöglicht, ermöglicht mein innerer Kompass es mir flexibel auf ganz unterschiedliche Geschehnisse zu reagieren.
Meine Haltung gibt mir Orientierung in unterschiedlichen sozialen Situationen. Also Situationen, in denen andere Menschen beteiligt sind und etwas mit oder zwischen uns passiert.
Warum ist Haltung So wichtig Im Anti-Bias-Ansatz?
Beim Anti-Bias-Ansatz geht es darum Diskriminierung und gesellschaftliche Schieflagen abzubauen und die Empathie der Menschen füreinander zu stärken. Die Grundannahme ist, dass alle Menschen Stereotype und Vorurteile erlernt haben und selbst von diesen betroffen sind. Dass alle Menschen die Erfahrung teilen, in Schubladen gesteckt zu werden sowie Ausschluss und Beschämung zu erleben. Das Ausmaß, in dem Menschen Diskriminierungserfahrungen machen, unterscheidet sich dabei sehr stark und hängt mit der Bewertung von Vielfaltsaspekten wie Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Behinderung etc. zusammen.
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Prägungen und der eigenen Position innerhalb der Gesellschaft erfordert die grundsätzliche Bereitschaft sich selbst in einem anderen, oft auch unschönen Licht zu betrachten. Vorurteile? Haben doch nur die anderen, oder? Spoiler Alert: Nö.
Für die Prozesse in der Anti-Bias-Arbeit brauche ich einen gut eingestellten inneren Kompass, der mir Orientierung gibt und mich darin bestärkt, diesen Weg zu gehen.
Ich setze mich seit über 10 Jahren mit Vorurteilen und Diskriminierung auseinander. Früher hatte ich diese witzige Vorstellung, dass ich eines schönen Tages reflektiert und aufgeklärt genug bin, um nicht mehr in Schubladen zu denken.
Hahahahahahahaha hahahahahaha. Der war gut.
Ich weiß inzwischen, dass die Anti-Bias-Reise ein Leben lang weitergeht. Es ist für mich immer wieder sehr herausfordernd mit meinen eigenen Normvorstellungen und Schubladen konfrontiert zu sein. Besonders, wenn andere sich darüber freuen, die Anti-Bias-Trainerin bei einem Vorurteil erwischt zu haben. Hach, was ist mir das doch peinlich.
In solchen Situationen hilft mir meine Haltung ungemein. Zu meinem Kompass als Anti-Bias-Trainerin gehört, dass ich mich in Frage stellen lassen will (auch wenn es mit Unsicherheiten einhergeht und unangenehm ist). Dass ich meinem eigenen Bias mutig begegne, neugierig und offen bleibe. Dass ich die Lebensrealität anderer Menschen ernst nehme und mir meiner eigenen Begrenztheit bewusst bin.
Warum Ist Haltung dennoch nicht die Lösung?
Als die Idee zu diesem Blogbeitrag entstand, erzählte ich meiner Freundin Katja begeistert davon. Daraus entstand eine sehr dynamische und spannende Diskussion. Katja war nämlich leicht genervt vom Haltungsbegriff. Für sie klang es ein bisschen nach: Du musst nur eine entsprechende Haltung haben und dann ist alles gut.
Ist ein berechtigter Einwand.
Haltung hat dort ihre Grenzen, wo sie zum Wohlfühlgarant für das eigene Handeln wird. Wenn sie von der Verantwortung für das eigene Verhalten entbindet: „Ja, ich habe dich gerade diskriminiert aber hey, meine Haltung war wertschätzend. NOT.
Haltung ist auch dann ein Problem, wenn gesellschaftliche Schieflagen durch die Haltung von Individuen gelöst werden sollen. Beispielsweise wenn vorurteilsbewusste Lehrer*innen rassistische oder sonst wie diskriminierende Schulbuchinhalte mit ihren Klassen aufarbeiten. Toll, löst aber nicht den strukturellen Rassismus im Bildungssystem.
Eine vorurteilsbewusste Haltung ist nicht die Lösung für gesellschaftliche Schieflagen und sie ist keine Garantie dafür, dass wir auch ins Handeln kommen. Sie ist aber nicht ohne Grund ein zentrales Element der Anti-Bias-Arbeit: Ohne sie geht es nicht. Erst die innere Ausrichtung unseres Kompasses schafft die Voraussetzung, um auf die Anti-Bias-Reise zu gehen. Individuell, im Paartanz ;-) und als Gesellschaft.